Ueber die Thätigkeit der Sinnesorgane
in Erregung der Traumbilder.


Von
Herrn Professor Franz von Paula Gruithuisen.
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Mehrere Gelegenheiten **) hatte ich bereits benutzt, meine Erfahrungen über den Traum bekannt zu machen; allein ent=[106]weder hält man diese Erfahrungen für noch nicht hinlänglich berichtigt, oder man fürchtet, gegen diese oder jene herkömmliche Meinung anzustoßen, oder man kann sich nicht recht in die Sache hineindenken, kurz, erwas muß es seyn, welches macht, daß man diese Erfahrungen nicht gehörig aufgreift und benutzt, ohne welche doch alle psychologischen oder vielmehr anthropologischen Erklärungen über das Vorstellungs= und Denkvermögen und deren Mängel nie aus dem großen Oceane der Meinungen an das feste Land kommen können.
Es sind nun funfzehn Jahre vorüber, daß ich zum erstenmale von den Traumgesetzen öffentlich sprach, und damals hatte ich bereits sechs Jahre experimentirt, bevor ich nur eine Zeile darüber bekannt zu machen mir die Freiheit nahm.
Seit dieser langen Zeit bin ich immer auf die Bilder aufmerksam gewesen, welche im Traume in den Sinnorganen vorkommen, und ich habe Alles, was ich bisher davon sagte, bestätigt gefunden. Auch fand ich mehrere Personen, die sich gar wohl erinnerten, daß bei ihnen Träume in Reverien übergegangen, d. h. daß die Traumbilder des Auges nach dem Erwachen noch eine kurze Zeit stehen geblieben waren.
Ich werde nun diese Gelegenheit benutzen, andere Forscher zu den interessanten Untersuchungen über den Traum zu ermuntern, und sich in dieser neuen Welt zu orientiren, damit die Theorie des Denkvermögens immer mehr zur reifern Ausbildung gelange, da dasjenige, was man davon zu wissen glaubt, doch sich zu ihrer Vervollkommnung, deren sie bereits durch meine Untersuchungen fähig wäre, verhält, wie die Chemie des [107] Paracelsus zu der unfertigen; doch glaube ich hieran schon einige beträchtliche Vorschritte in meiner Anthropologie und in meinen Beiträgen instituirt zu haben.
Daß aber das Stillschweigen über meine Arbeiten in dieser Region der Wissenschaft zum Theil davon komme, daß sie eine ganz neue Welt darbietet, und daß man nicht recht weiß, wie man in sie hineinkommen kann, um sich darin auch umzusehen, wird mir immer klarer, und doch ist Nichts in der Welt nothwendiger für denjenigen, welcher weiter fortarbeiten will, als dieses, worunter ich das Selbstprüfen, das Nach=Untersuchen verstehe.
Zwar muß ich mir die Schuld selbst beimessen, daß dieses noch, meines Wissens, von Niemand geschah, weil ich, statt eine förmliche Vorschrift, wie man den Zugang zu dieser neuen Welt finden könnte, zu geben, die Sache durch weitere theoretische Ausbildungen schon begreiflich zu machen hoffte.
Aus diesem Grunde will ich es nun hier versuchen, darzulegen, wie es am besten gelingen dürfte, die Traumbilder, die Bewegungen und Metamorphosen derselben, und ihre Gesetze zu finden und zu begreifen. Doch glaube ich, daß nicht jeder es dahin zu bringen im Stande sey. Die beßte Hoffnung ist bei demjenigen, der in seiner Jugend eine Anlage zum Nachtwandeln gezeigt hat; denn der Muskelsinn ist, wie wir’s von dem Alp wissen, am schwersten aufzuwecken.
Daß zu diesen Beobachtungen und Versuchen eine Art von Vorbereitung gehört, wird man leicht begreifen, wenn man bedenkt, daß außer dessen die Traumgesetze schon längst alle bekannt seyn würden. Daß aber hingegen, wie einige meinen, eine ganz besondere Anlage, eine besonders geeignete Individualität hiezu gehören sollte, kann ich deshalb nicht glauben, weil ich bereits mehrere Personen fand, die, ohne besondere Vorbereitung sogar hieher gehörige Erscheinungen hatten, und die ich zum Theil schon in meinen Beiträgen nam=[108]haft machte, und welches vermuthen läßt, daß es wohl zu diesen Versuchen noch geneigtere Personen geben müsse, als ich selbst bin.
Die beßte Vorbereitung hiezu ist, daß man sich in der Nacht, sobald man träumt, aufwecke, wobei man gar nichts braucht, als an die Nothwendigkeit zu denken, daß man Gefahr laufe, zu versäumen, was man vorhabe. Man kommt bei diesem Versuch in einen Zustand  zwischen Schlaf und Wachen, bei dem, wie man weiß, der Traumzustand am meisten zur Wahrnehmung gelangt. Vermag man einmal, dieses zu thun, so ist es nöthig, in diesem Zustande nur schnell die Augen zu öffnen; und man wird allemal reguläre Bilder erblicken, die an den Wanden des Zimmers zu haften scheinen, welche aber fortrücken, und zwar genau, wie man die Augen bewegt. Betrachtet man aber die Bilder ruhig, so wird man ihre stete Metamorphose wahrnehmen. Es ist dies die allergewöhnliche Erscheinung. Aus einem Kalbe z. B. wird der Hund, des es beißt, aus dem Hund der Metzger, der den Hund schlägt, und die fehlenden Umstände denkt der Träumende hinzu; oder sieht man einen lieben Bekannten, und auch seine Gattin, so verwandelt er sich in die letztere; allein dieses geschieht immer mit Uebergängen, die zwischendurch andere Personen darstellen. Eduard in Göthe’s Wahlverwandschaften *) sagt von Ottilien: „Alles was mir mit ihr (im Träume) begegnete, schiebt sich durch und übereinander; — manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält mich; aber sogleich verändert sich ihr Bild, ihr schönes rundes himmlisches Gesichtchen verlängert sich, es ist eine Andere“. Auch Hölty sah wachend **) an der Wand sein Liebchen schweben. Diese Umstände sind die gewöhnlichsten und die ersten, welche uns bei Versuchen über den Traum in den Weg kommen.
[109] Ist man einmal soweit, so macht sich das Uebrige von selbst, wenn man sich auch dazu einübt, z. B. die Sinnestäuschungen wahrzunehmen u. s. w.
Die stärkste Vorbereitung aber kann man sich geben, indem man Nachts studirt. So war es in meinen Universitätsjahren, als ich die auffallendsten Beobachtungen über den Traum ausgeführt hatte. Nämlich ich machte mir zur Regel, Nachts sehr viel zu studiren, ohne des Schlafes in der Art zu entbehren, daß ich desselben um viel weniger als um fünf Stunden genösse, und dabei nahm ich mir vor, gar nie in der Schläfrigkeit fortzustudiren. Ich schlief daher von Abends 9 - 12 Uhr, da erwachte ich, machte Licht und studirte bis 2 Uhr, von hier an schlief ich wieder bis 3 Uhr; nun wurde wieder bis 4 Uhr studirt, sodann bis ½ 5 Uhr geschlafen, und von 5 Uhr ferner studirt bis zur Collegienzeit. Indem ich mich nun täglich beiläufig in dieser Ordnung zwei Jahre lang aufgeweckt hatte, kamen mir die allerverschiedensten lehrreichen Erscheinungen in Ansehung der Traumbilder vor, so daß mir schon sehr viele entfallen waren, als ich erst aufmerksam auf sie geworden war, und anfieng sie zu notiren.
Zwar ist der Morgentraum im Allgemeinen der fruchtbarste zu diesen Beobachtungen, um sich bei den interessantesten Erscheinungen aufzuwecken, und nicht selten gelingen sehr interessante Beobachtungen während des Traumes selbst; wenigstens war ich so glücklich, mich beim Morgentraum in einen solchen Zustand zu versetzen, in dem ich, ohne zu träumen aufzuhören, alle Metamorphosen der Traumbilder nach einander wahrzunehmen im Stande war.
Allein auch vor dem ersten Abendschlaf, wenn die mehr äußere Phantasie abgelaufen ist und die innere reproduktive beginnt, kann man aufmerksam seyn auf den Akt des Einschlafens. Man wird zur Zeit, da man schon sehr schläfrig ist, und sich zurecht gelegt hat, bei noch geöffneten [110] Augen das Gewimmel des Traumchaos an den Wänden zu sehen glauben, welches sich allmählig langsamer bewegt, in dessen unterscheidbaren Theilen argumentirt, und endlich sich zu Traumfiguren gestaltet.
Indessen gibt es auch ausser jener Methode, nämlich es Schlafes in mehreren Abteilungen zu geniessen, noch verschiedene Gelegenheiten zu interessanten Beobachtungen über den Traum, z. B. nachdem man eine Nacht viel getanzt hat, und vor Müdigkeit kaum schlafen kann, so wie auch in kummervollen Nächten, da man nur in kleinen Abtheilungen zu schlafen pflegt, und bei allen Gelegenheiten, die zur öftern Unterbrechung oder zum Aufschub des Schlafs nöthigen.
Zum Beleg dieses Gesagten will ich ein Paar Beobachtungen anführen, die mir, nachdem ich mehrere Wochen nach einander eine zahllose Menge Masken zur Nachtzeit gesehen hatte, im Traume die auffallendsten schienen.
In den Fällen, wo es mir mehrere Tage nach einander gelang, außer vielen undeutlichen, doch auch die deutlichsten Traumbilder nach dem Erwachen im Auge zu behalten, sah ich einmal ein nettes Mädchen in einer spanischen Maske, anfänglich mit allen Schatten, Farben und Conturen so deutlich, als es beim hellen Tage bei der beßten Beleuchtung nur immer möglich gewesen wäre; aber bei größerer Anstrengung, ihre Theile zu mustern, wurde alles undeutlicher, und sie selbst verwandelten sich indessen in ein altes Weib, und zuletzt in einen Nebel, indem sich dann das Bild, gleich nach dieser Metamorphose, in sein ursprüngliches Traumchaos auflöste.
Ein anderesmal, als mir träumte, eine lange männliche pedantische Maske mit scharlachrothem Kleide, einer dicken Werkperücke und großem Haarbeutel, zu sehen, kam noch eine, deren Theile und Anzug ich nicht genau unterschied, welche die erstere aber den Augenblick ergriff, und mit ihr gleich Seiltänzern sich auf dem Boden wie ein Rad herumzuwälzen [111] schien. Als sie aufgehört hatten, verschwand die zweite Maske, und von der ersteren sah ich mit allen Umrissen nur noch das rothe Kleid herumgehen, gerade als ob der Mann noch darin steckte; aber Kopf, Hände und Füsse waren rein verschwunden, und endlich verschwand auch die Scharlachfarbe, aber sogleich erschien dafür die blaue, welche sich zuletzt in einen violet=grauen Nebel auflöste. Auch kam mir jene pedantische Maske anfänglich sehr deutlich mit allen Umrissen vor; nur am Ende war das scharlachrothe Kleid viel kürzer und breiter geworden. Aus Allem, was ich bei ähnlichen Gelegenheiten bemerkt habe, bestättigt sich meine frühere Meinung, daß im gewöhnlichen Fatum der Reproduktion, nach dem Aufleben der in die alten Sinneseindrücke hineingeheilten neuen thierischen Stoffe *) bei den Denkvorstellungen und Phantasieen am Tage nur diejenigen Sinnesaktionen Statt finden, welche bei ihrer Anregung durch einen einzelnen Sinn Statt gefunden hatten, vermöge welcher der Mensch ganz Auge, ganz Ohr ist u. s. w., und daß dabei der von Außen damals in seiner Art angereizte Sinn in solche Thätigkeit kommt, woraus nur allein eine Traum= oder Reverie=Vorstellung entstehen könnte. Dagegen aber ist es gewiß, daß beim Traum und bei der Reverie das jugendliche thierische Wesen, welches durch die Reproduktion hervorgebracht wird, in der Lokalität des Sinnes selbst sich ermuntert, während bei den Denkvorstellungen der Empfindungseindruck zerstreut in allen übrigen Millionen von [112] Sinnesmomenten *) umher sich regt, wiefern er eine stärkere Reproduktion veranlaßt hatte.
Diese viel dunkleren Bilder einer ganz andern Art sind aber doch hinlänglich, um selbst für den gemeinsten Menschen eine solche Deutlichkeit zu gewähren, daß er durch das Gedächtnißgesetz des Beysammenseyns und der Aufeinanderfolge, nach welchem die Thätigkeiten in dieser frischen Sinnenheilniß nach einander erregt werden, im Erzählen und Beschreiben den Faden nicht verliert. Es ist aber Etwas sehr Seltenes, daß einem im Denken Ungeübten eine anhaltende Combination der Denkvorstellungen für eine ihm neue Ansicht gelingt, und in diesem Falle sagt er: jetzt bin ich recht tief hineingekommen. Der gemeine Mensch ist immer nur mit Erzählungen beschäftigt, das Reflektiren, Schließen, Combiniren und Abstrahiren ist für ihn Pferdearbeit, und muß es seyn, weil alle jene Umstände, welche den Gelehrten und den Künstler zum Denken antreiben, bei ihm nicht zur Convenienz geworden sind.
Außer obigen neuern Beobachtungen gelang es mir erst vor einiger Zeit, auch zu entdecken, daß man in jedem der beiden Sehorgane ein anderes Traumbild haben kann. Ich schlief nämlich einmal über Tags ein, und wachte dann wieder auf, ohne die Augen zu öffnen, weil ich Traumbilder sah, [113] die mir durchsichtig zu seyn schienen. Ich hatte nämlich Bilder von Kühen, Schaafen, Bäumen im Auge, und hinter ihnen sah ich Gebirge, deren Umrisse ich durch die im Vordergrunde stehenden Kühe und Bäume, gleichsam als wären diese durchsichtig, durchscheinen sah. Ich bewegte die Augenachsen in größere oder kleinere Winkel (durch willkührliches Schieben, was ich längst recht fertig einexercirte) und es schoben sich auch Thiere und Gebirge in demselben Verhältniß hintereinander weg, und diese Bilder waren selbst dann, als ich schon die Augen geöffnet hatte, an der Wand des Zimmers noch sichtbar und verschiebbar, ob sie freilich nun alsbald verschwanden.


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**) [105] Oberd. allg. Lit. Zeit. 1808. Nov. S. 908 u. s. w. Dann neue allg. Lit. Z. 1809. Febr. u. s. w. Anthropologie oder [106] von der Natur des menschl. Lebens und Denkens, München b. Lentner 1810. §. 561 - 564. — Zum Nachlesen empfehle ich vorzüglich den Aufsatz: Erfahrungen zur bessern Begründung der Theorie des Empfindungs=Vermögens und vorzüglich des Traums, in meinen Beiträgen zur Physiognosie und Eautognosie, München bei Lentner. 1812, S. 202 u. s. f.

*) [108] Bd. 1. S. 293 - 294. Meine Beiträge, S. 59.

**) Beiträge S. 60.

*) [111] Anthropologie, München bei Lentner 1810, S. XXI. und §. 336 - 342. Beiträge S. 287 - 288. (Es verhält sich dieses nach dem physiologischen Grundsatze; daß Funktioniren = Destruiren sey, und daß also das Destruirte — das Leben durchloffene — durch Reproduktion wiederersetzt = geheilt — werden müsse).

*) [112] Der übrigen fünf bekannten Sinne nicht zu gedenken, so haben die Cönästhesic und der Muskelsinn unzählige Momente, besonders da auch letzterer sich, als Sinn, fast wie polypös verhält, indem die Nerven, nicht sogleich die in die Faser gehend, vielmehr in das Zellgewebe, welches die Muskelfiber zusammen verbindet, diffluirt sind, worin sehr wahrscheinlich der Hauptsitz der Empfindung in den Muskeln ist, während die Bewegungsaktion einen vollkommenen Uebergang dieses nervenreichen Zellgewebes in die Muskelfasern verlangt.












Zeitschrift für die Anthropologie / hrsg. von Fried[rich] Nasse. - Leipzig : Cnobloch, 1823. - Hft. 3, S. 105 - 113.