Aus der Selbstbeobachtung eines Scheintodten.

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Ich befand mich im Jahr 1812 zu Krakau auf der Genesung von einem Typhus, als mir der Unterwärter des Hospitals statt der Ptisane aus Versehen eine Flasche Ungarwein reichte, die ich im Vertrauen auf ihre guten Kräfte ausleerte. Die Folge hiervon war ein Blutsturz, während welchem ich in einen scheintodtähnlichen Zustand verfiel. Es muß schlimm mit mir ausgesehen haben, da der stationirende Oberkrankenwärter mich bereits in den Raum zu den fast aufgegebenen Kranken legen ließ, aus dem die einmal hineingebrachten meist nur durch den Leichenwagen wieder herausgelangten.
[189] Deutlich erinnere ich mich, wie es während dieser scheinbaren Bewußtlosigkeit in mir war: ich träumte, und träumte angenehm und glücklich.
Die frühesten Szenen meiner Kindheit, die Kinderstube des Vaterhauses, in der ich seit zwei und zwanzig Jahren nicht mehr gewesen war, standen klar vor mir, wie sie mir seit jener Zeit nie erschienen waren. Meine verstorbene Großmutter, die uns Enkelchen jeden Abend mit Fenchelthee und gebranntem Zucker letzte und dann mit dem Liede: Nun sich der Tag geendet hat, in den Schlaf sang, sah ich wieder an dem großen Tische der Kinderstube, vor mir die braune Theekanne und im Winkel die große grüne Gitterwiege.
Mit kindlicher Rührung vernahm ich wieder den einlullenden Gesang. Von dem, was außer mir vorging, wußte ich nichts.
Ich mochte in diesem scheintodtähnlichen Zustand drei bis vier Stunden gelegen haben, als der diensthabende Chirurg sich veranlaßt sah, mich näher zu untersuchen. Man wandte mich um, um durch Reiben des Rückgraths wieder Leben in mich zu bringen. So kam ich mit Mund und Nase in mein auf dem Lager angesammeltes Blut zu liegen. Ich erinnere mich lebhaft, wie äußerst erquickend mir dieß war; ich hatte ein Gefühl, wie im Erwachen aus einem süßen Morgentraume. Ist so der Augenblick des Todes, so ist’s einer des höchsten Wohlgefühls.
Erst als ich auf ein andres Lager gebracht worden, fand sich das Gefühl von Schwäche und das Bewußtseyn meines äußeren Zustandes in mir ein. Ich rückte indeß unter guter Behandlung schnell in der Genesung vorwärts und erlitt keinen weiteren Rückfall mehr.


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Zeitschrift für die Anthropologie / hrsg. von Fried[rich] Nasse. - Leipzig : Cnobloch, 1825. - Hft. 1, S. 188f.